Die Carstenszpyramide ist mit fast 5000 m Höhe nicht nur der höchste Berg von Neuguinea, sondern im ganzen pazifischen Raum zwischen Himalaya und Anden. Als einer der "Seven Summits" ist er ein begehrtes Ziel von Gipfelsammlern, war allerdings bisher aus politischen Gründen jahrelang Sperrgebiet für Ausländer. Nachdem es jedoch jetzt für dieses Gebiet Genehmigungen gibt, fahre ich gleich bei der ersten Erkundungstour zu diesem Gipfel mit.
Mit einem auf Expeditionen spezialisierten Reiseveranstalter fliegen wir zu sechst nach Irian Jaya, dem westlichen indonesischen Teil dieser faszinierenden Urwaldinsel. Bei dieser Pioniertour sind erstaunlicherweise gleich vier Achttausenderbergsteiger sowie andererseits vier promovierte Akademiker dabei: Hans ist der Organisator, Jan ein Schweizer Rechtsanwalt, Ekke Gymnasiallehrer und Bergführer, Veronika aus Bern Chemikerin, Ramon ein spanischer Profibergsteiger und ich bin wieder einmal Expeditionsarzt. Hinzu kommt Ripto, unser sympathischer einheimischer Führer und Dolmetscher, ein Student und Kletterer aus Jakarta.
Die Ausrüstungswahl ist diesmal etwas schwieriger, da wenig Informationen und Erfahrungswerte vorliegen und eine große Spannweite von Anwendungsmöglichkeiten abgedeckt werden muß, z.B. von Kletterschuhen bis zu Plastikstiefeln, von Badehose bis zur Daunenjacke, von Sekundenkleber bis zum Regenschirm.
In Bali, wo wir eine Nacht vor dem Weiterflug nach Neuguinea verbringen, reicht es abends gerade zu einem Strandspaziergang und einem kurzen Bad sowie für ein paar Postkarten nach Hause mit dem Hinweis auf meinen wohlverdienten "erholsamen Strandurlaub am Meer".
Nachdem wir Neuguinea erreicht haben, sitzen wir erst einmal vier Tage ziemlich unproduktiv in Nabire, einem kleinen Fischerort am Meer, herum, da die Luftfracht mit der Gemeinschaftsausrüstung zu spät aufgegeben wurde und deshalb erst nachgeschickt werden muß. Als Alternativprogramm und Abkürzung der Wartezeit organisieren wir einen Ausflug mit einem einheimischen Fischerboot zu einer vorgelagerten kleinen Insel. Diese erweist sich als ein Südseeparadies: bewachsen mit Kokospalmen, ein Sandstrand mit schönen Muscheln, rundum glasklares Wasser, ein paar einheimische Fischer mit ihren kleinen Booten, Sonne und Wärme - ein wahres Idyll!
Auch die Rückfahrt in der Dämmerung ist ein Erlebnis: das Funkeln und Glitzern der aufspritzenden Wassertropfen, der Sonnenuntergang überm Meer, die sternklare Nacht, die Scheinwerfer der Fischerboote, der kühlende Fahrtwind - die Gedanken sind längst in Träume übergegangen, der Geist schwebt in einer anderen Welt.
Kurz vor dem Ufer gehe ich vom Bug nach hinten, als plötzlich das Boot - trotz Ausleger auf beiden Seiten - durch ungleichmäßige Gewichtsverteilung kippt und beinahe kentert. Ich falle ins Wasser - aber auch der Großteil unserer Kameras! Wir bemühen uns in der Dunkelheit verzweifelt, die Wertsachen aus dem Wasser zu fischen - es ist ziemlich chaotisch, wir haben kein Licht und auch keinen Überblick. Endlich an Land stellen wir unsere Verluste fest: Eine Fotoapparat liegt am Meeresgrund, alle anderen Kameras außer meinen sind salzwassergeschädigt, darunter allein drei Leicas! - Eine schöne und teure Bescherung! Trotz sofortigem Spülen mit Süßwasser, Fönen und Trocknenlassen fallen sechs Kameras aus, und das ganz am Anfang unserer Expedition! Wir improvisieren so gut als möglich mit Ausleihen, zusätzlich werden zwei Pocketkameras auf dem Markt gekauft.
Endlich ist das Gepäck da, und wir verlassen die schwüle und malariaverseuchte Küste mit einem Charterflug ins Landesinnere. Wir fliegen über riesige Urwaldflächen - eine wilde, schroffe und abweisende Naturlandschaft, in der es keine Notlandeplätze gibt. Nach der Ankunft in Ilaga, einem fruchtbaren Tal in 2400 m Höhe, sehen wir erstmals die Danis, einen Stamm der Bergpapuas. Sie sind z.T. westlich, z.T. aber noch absolut traditionell gekleidet - jetzt sind wir wirklich in einer anderen Welt und Zeit gelandet.
Besonders deutlich wird dies am Wochenmarkt, der gerade stattfindet: Er ist malerisch, exotisch, ursprünglich, ja geradezu archaisch. Etwa die Hälfte der Menschen sind wie eh und je bekleidet: die Männer nur mit Penisköcher, viele mit Federn, Schnüren und Bändern geschmückt, manche regelrecht herausgeputzt, während die Frauen viel unscheinbarer wirken. Ihre traditionelle Kleidung besteht lediglich aus einem Bastrock, ansonsten ist "oben ohne" völlig natürlich.
Eigentlich nur ein Gemüse- und Früchtemarkt, erfüllt dieses Zusammentreffen der Danis auch wichtige soziale Funktionen: Nackte Babies werden gestillt, dazwischen spielen kleine Kinder, Bekannte begrüßen sich, Neuigkeiten werden ausgetauscht, man will sehen und gesehen werden, wobei wir paar Touristen keine große Rolle spielen und nur mäßig beachtet werden. Ich bin so fasziniert von all den neuen Eindrücken, daß ich vor lauter Schauen und Staunen fast nicht zum Fotografieren und Filmen komme. Dies aber ist mit etwas Erfahrung und Geschick relativ gut möglich - die Danis sind weder besonders scheu noch aufdringlich, einfach völlig unverdorben und natürlich, wie ich es bisher noch kaum erlebt habe.
Das Innere von Neuguinea war bis in dieses Jahrhundert noch ein weißer Fleck auf der Landkarte und verschließt sich auch heute noch durch seine extreme Landschaft einer systematischen Erschließung mit Straßen. Vor zwei Generationen haben die Papuas noch keinen weißen Mann gesehen, vor einer Generation hat der Bergsteiger und Forscher Heinrich Harrer seine Träger noch mit Kauri-Muscheln statt Geld bezahlt und die ersten Stahläxte mitgebracht. Die traditionellen Wurzeln aus der Steinzeit sind trotz Christianisierung und der indonesischen Kolonialisierungspolitik noch immer lebendig. Penisköcher und Bastrock sind weiterhin gebräuchlich und in diesem Klima vom hygienischen Standpunkt aus die geeignetere Bekleidung als unsere modernen Textilien.
Da die Danis nur maximal 15 kg tragen, starten wir mit insgesamt 51 Trägern zum sechstägigen Anmarsch quer durch die Wildnis. Zu unserer Ausrüstung und Verpflegung kommen noch eine Reihe von Lasten mit Süßkartoffeln für die Träger unterwegs sowie für ihre Wartezeit während unserer Bergbesteigungen hinzu. Die Dani-Träger werden alle namentlich registriert - drei Viertel davon heißen Wacka, Wonda oder Kogoya mit Nachnahmen, die Vornamen sind meist christlich.
Unser Weg führt zunächst breit und bequem durch Felder und Dörfer, über eine malerische Hängebrücke, dann über schmale Pfade an den letzten Äckern vorbei in die Wildnis des Dschungels: Es geht über oder unter umgestürzten Bäumen voran, durch Gestrüpp, dichtes Unterholz, Steilstufen, kleine Rinnsale oder Bäche, vorbei an Baumriesen, Palmen, Farnbäumen, Astgewirr und Lianen - die ganze Vielfalt des Urwaldes nimmt uns gefangen. Wenn es regnet, wird der Pfad rutschig und lehmig, wir balancieren über glitschige Stämme bzw. Wurzeln und brauchen oft die Hände zum Festhalten. Der Morast wandert von den Schuhen die Hosen hoch, Blätter streifen ihre Feuchtigkeit an uns ab, und irgendwann ist man von innen oder außen ziemlich durchnäßt und verdreckt.
Die Träger sind dies gewohnt: Manche haben sogar Schirme, andere olivfarbene Regenumhänge, verblichenes gelbes Ölzeug, benutzen schwarze Plastiksäcke oder einfach ihre Last auf dem Kopf als Regenschutz. Fast alle laufen barfuß, nur wenige haben alte Turnschuhe oder Gummistiefel. Zum Glück ist es nicht sehr kalt, und wenn man kaum bekleidet ist, kann auch nicht viel naß werden - und die Haut trocknet ja schnell wieder. Obwohl es oft regnet, bin ich von der abwechslungsreichen Landschaft und dem Zusammensein mit den unbefangenen Danis so angetan, daß ich fast den ganzen Tag mit umgehängten Kameras herumlaufe und unter meinem Regenschirm fotografiere und filme.
Unsere Übernachtungsplätze liegen sechs bis acht Stunden voneinander entfernt, meist in der Nähe eines höhlenartigen Überhangs, unter dem die Träger eng zusammengekauert um das wärmende Feuer liegen. Als Unterlage dient lediglich etwas trockenes Gras, eine Decke und warme Kleidung haben nicht alle, so daß das Feuer die ganze Nacht brennen muß. In der Glut werden auch die Süßkartoffeln gebraten, das Hauptnahrungsmittel der Danis. Unterwegs wird bei jeder größeren Rast trotz Nässe und feuchtem Holz immer gleich ein Feuer angefacht. Die Danis sind der Natur gut angepaßt und leben noch weitgehend im Einklang mit ihr.
Allmählich verlassen wir den Urwald und erreichen ein offenes Hochplateau, das jedoch immer wieder durch tiefe Flußtäler unterbrochen wird. Der Weg bleibt mühsam, in der Ebene ist es feucht und sumpfig, kleine Tümpel zwingen zu Umwegen, mehrere Flüsse müssen durchwatet oder auf wackligen Baumstämmen gequert werden. Inzwischen bekommen wir Respekt vor dem Rückweg, denn bei dem dauernden Auf und Ab wird er nicht viel kürzer und leichter werden als der Anmarsch.
Nach drei Tagen sehen wir zum ersten Mal das Carstenszgebirge mit seinen felsigen Wandabstürzen und darüberliegenden vergletscherten Gipfeln in der Ferne aufragen. Am fünften Tag steigt der Pfad nach einem idyllischen Farnwald und einem tiefgrünen See steil durch dichtes Unterholz in die Höhe. Aber alle Mühen des Anstiegs sind vergessen, als wir nach einer kleinen Einsattelung plötzlich den Lake Larson vor uns liegen sehen - ein wunderbarer Ausblick auf eine herbe, aber eindrucksvolle Urlandschaft mit Seen, Hügelketten, kargen Wiesen, steilen Felsabbrüchen und spitzen Gipfeln, die sich z.T. hinter Wolkenschwaden verstecken. Spätestens hier bereue ich es nicht, soviel Geld für diese Reise ausgegeben zu haben. Diesen Anblick haben noch wenige Touristen gesehen, und es ist der bisher schönste Tag.
Am Abend besuchen wir die Träger bei ihrem Lagerfeuer. Noch lange in der Nacht singen sie ihre monotonen Lieder oder Wechselgesänge, immer wieder unterbrochen von lauten, bellenden Schreien, mit denen Geister vertrieben werden sollen - ein lebendiges Relikt aus der Vergangenheit. Innerhalb der Sippe besteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl: Insgesamt laufen auch neun Frauen in unserer Gruppe mit, selbst ein Kleinkind wird mitgetragen. Für die Danis ist dieser "Familienausflug" wie bei uns ein Sonntagnachmittagsspaziergang und eine willkommene Abwechslung.
Der letzte Anmarschtag führt über den sogenannten Neuseelandpaß, einen 4400 m hohen felsigen Einschnitt in der Nordwandmauer, der bei der ersten Erkundung durch eine holländische Expedition 1937 noch vollkommen vergletschert war. Der Aufstieg ist alpin, teilweise muß man sogar etwas im 1. Schwierigkeitsgrad klettern - für die barfüßigen Träger eine hervorragende Leistung!
Von der Paßhöhe kann man in der Ferne das blaue Arafura-Meer erkennen und nach einem Felsdurchbruch auch erstmals die Carstenszpyramide, einen ziemlich kompakten und langgestreckten Kalkfelsgipfel, dessen zwei scharfe Klettergrate die einfachsten Anstiege darstellen, während die steile Gipfelwand schon extreme Kletterei verlangt.
Von einem Felsvorsprung sehen wir rechts plötzlich die Mine von Tembagapura - ein ziemlicher Schock! Hier wird im Tagebau ein ganzer Berg mit Kupfer- und Goldvorräten abgebaut. Der Kontrast zu unserem Anmarsch mit den Ureinwohnern Neuguineas könnte nicht größer sein. Hier sechs Tage durch Dschungel und Hochlandsümpfe - dort Abbau der Naturvorräte mit modernsten Mitteln. Unterwegs mit den Dani, die kaum über die Steinzeit hinausgekommen sind, und dann der unerwartete Sprung ins Atomzeitalter mit riesigen Maschinen, Seilbahn und Großbaustelle - irgendwie schizophren mit fast unüberbrückbaren Gegensätzen. Die Mine wird von amerikanischen Firmen in Lizenz betrieben und soll später wieder in indonesische Hände zurückgehen. Um den Profit zu steigern, wird in drei Arbeitsschichten Tag und Nacht gearbeitet, und man kann vom Basislager aus manchmal die Maschinen hören, da die Mine nicht einmal einen Halbtagesausflug von uns entfernt ist.
Nachdem unser ganzes Gepäck abgeladen ist, verlassen uns die Träger: Die Hälfte geht sofort nach Ilaga zurück, die anderen warten an einem geschützten Platz nahe der Mine, bis wir mit dem Bergsteigen fertig sind. Während der folgenden vier Tage im Basislager stehen wir jeweils sehr früh noch vor dem ersten Tageslicht auf, schauen nach dem Wetter und gehen nach einem kurzen Frühstück zu unseren Bergzielen los. Der obligatorische Regenguß beginnt manchmal schon um neun Uhr, spätestens jedoch um ein Uhr mittags. Nach der Rückkehr vom Berg gibt es erst etwas zu essen und trinken, dann eine Ruhepause und schließlich vor dem Dunkelwerden ein gemeinsames Abendessen.
Am ersten Morgen starten wir bereits um fünf Uhr früh zum Gipfelversuch auf die Carstenszpyramide. Zusammen mit Ekke bilde ich ein Zweierteam, wobei wir meist ohne Seil klettern. In einem Rinnen- und Verschneidungssystem, z.T. mit schönen Kletterstellen, kommen wir relativ schnell bis zu einer Schutt-Terrasse etwa in der Wandmitte. Da das Wetter sehr schlecht und ganz nach einem längeren Regenguß aussieht, beschließen wir, hier ein Materialdepot anzulegen und bei besseren Verhältnissen wiederzukommen. Zurück beim Einstieg fängt es dann auch zu regnen an und hört praktisch den ganzen Tag nicht mehr auf.
Ramon, unser schneller Profibergsteiger, klettert solo und kommt bereits zu Mittag völlig durchnäßt vom Gipfel zurück. Die anderen vier sind ebenfalls weiter bis zum Gipfel aufgestiegen, erreichen aber unser Basislager erst bei Dunkelheit und ziemlich erschöpft! Beim Abseilen haben sich die Seile verhängt und können nicht mehr abgezogen werden, so daß jeweils ein Rest abgeschnitten werden muß. Ein Glück, daß dabei sonst nichts weiter passiert ist!
Während sich die anderen von den Strapazen des Vortags erholen, starten Ekke und ich am nächsten Morgen zu unserem zweiten Besteigungsversuch. Schnell haben wir unser Ausrüstungsdepot und den Westgrat erreicht. An einer tief eingeschnittenen Scharte im Kammverlauf seilen wir ab und müssen dann die Schlüsselstelle, eine glatte Wand im Schwierigkeitsgrat IV, zum Grat zurückklettern. Hier lassen wir uns Zeit zum Fotografieren und Filmen. Der Anstieg ist ziemlich abwechslungsreich und abenteuerlich - bombenfester, extrem rauher Kalkfels wechselt ab mit brüchigen Passagen und Gehgelände. Die Tiefblicke steigern sich mehr und mehr, auf der Südseite läßt sich zwischen Wolkenschwaden schemenhaft der Carstenszgletscher erkennen, während wir immer wieder von Nebelfetzen eingehüllt werden.
Kurz vor elf Uhr erreichen wir schließlich den Gipfel, früher mit über 5000 m Höhe angegeben, nach neueren Messungen nur noch 4880 m hoch. Ein paar zurückgelassene Wimpel und Plaketten markieren den höchsten Punkt Neuguineas, den bisher sicherlich noch keine hundert Bergsteiger erklommen haben. Zwischen Wolkenlöchern sehen wir die vergletscherten Nachbargipfel der Gruppe gegenüber und in der Ferne auch die Anlagen der Mine neben steilen Gratzacken - ein gespenstischer Anblick aus einer anderen Welt!
Vom Grat seilen wir durch eine steile, lehmige und steinschlaggefährdete Rinne ab - ein schneller, aber unangenehmer Abstiegsweg. Hier finden wir die hängengebliebenen Seile unserer Vorgänger und nehmen sie mit. Später fängt es wieder ausgiebig zu regnen an, aber wir steigen ohne große Probleme weiter ab und kommen nach insgesamt neun Stunden schwerbepackt, aber gut gelaunt nach einem interessanten Klettertag im Basislager an. - Unser bergsteigerisches Hauptziel ist damit von allen erreicht.
Am nächsten Tag besteigen Ekke und ich den zweithöchsten Berg der Gruppe, den vergletscherten Nga Pulu. Unser Anstiegsweg führt über Schutt und einen kleinen Restgletscher, über Rampen und kleine Wandstufen mit glattgeschliffenen Felsen sowie über einzelne Gratzacken bis zum Beginn des weit zurückgeschmolzenen Gipfelgletschers. Dort benötigen wir sogar kurz unsere Steigeisen, um über einen Steilhang auf einen sanften, breiten Schneerücken zu gelangen, dann spure ich im knietiefen Sumpf- und Neuschnee mit meinen Plastikstiefeln bis zum Gipfel. Leider ist die Aussicht durch Wolken und Nebel sehr eingeschränkt, wir sehen lediglich zwei unserer Gruppe am benachbarten Nebengipfel.
Bei erneut zweifelhaftem Wetter wollen Ramon und ich am letzten Tag noch eine Erstbegehung versuchen. Wir steigen mit unserer ganzen Kletterausrüstung bis an den rechten Wandfuß der Carstenszpyramide. Neben der Normalroute zieht sich hier eine riesige, glatte Kalkplatte etwa bis in Wandmitte hinauf. Aus der Ferne sieht diese steile Steinwüste ziemlich kompakt und schwierig aus, aber aus der Nähe entpuppt sie sich leichter als erwartet, da der Fels sehr rauh und griffig ist. Unser Anstiegsweg zieht genau in Fallinie über Wasserrillenstreifen empor und ist wunderschöne Genußtour im IV. Schwierigkeitsgrat. Die Hauptschwierigkeit ist dabei das Anbringen der Sicherungen. Wir klettern in Wechselführung, gehen teilweise das 80 m Seil von Ramon ganz aus und dokumentieren diese Neutour ausgiebig mit Fotos und Filmszenen. Nach 350 m Klettern, die etwa sieben Seillängen entsprechen, ist die Tour leider viel zu schnell zu Ende. Wir sind begeistert über diese elegante Erstbegehung - sicherlich ein Höhepunkt unserer Bergtouren!
Am nächsten Morgen kommen wie vereinbart die restlichen 26 Träger für den Rückmarsch ins Basislager. Vom Neuseelandpaß aus besteigen Ekke und ich noch über gestufte Felsen und einen Gletscher unseren letzten Gipfel im Kamm der Nordwandmauer, der auf der anderen Seite Hunderte von Metern senkrecht abfällt. Bei einem kurzen Aufreißen der Wolkendecke haben wir schöne und ausgesetzte Tiefblicke auf kleine Seen, alpine Wiesen, Steilhänge, Vorberge und die dahinterliegenden Hochflächen und Dschungelgebiete. Direkt unter uns können wir ganz klein unsere Träger beim Abstieg erkennen und schreien zu ihnen hinunter. An diesem Tag steigen wir noch ziemlich tief ab. Durch den vielen Regen der letzten Tage ist der Weg noch nässer, rutschiger und sumpfiger als beim Aufstieg, und wir müssen uns in einer regelrechten Schlammschlacht bewähren.
Bei unserem Nachtplatz, einem überhängenden Felsen, verarzte ich wieder einmal die Danis mit ihren kleineren und größeren Wunden. Als Dank dafür laden sie mich nach dem Abendessen zu ihrem Lagerfeuer ein, trocknen dort über Nacht meine Trekkingschuhe, geben mir Süßkartoffel zu essen und versuchen, mir etwas von ihrer Danisprache beizubringen. Dazwischen wird wieder gesungen und gescherzt. Ich bin fasziniert von diesen Menschen und ihrer Lebensart. Hier wird mir auch bewußt, daß das Unterwegssein und tagelange Zusammenleben mit den Papuas das wesentliche Erlebnis unserer Reise ist und dieser kulturelle Aspekt die Bergabenteuer noch übertrifft!
Am dritten Rückmarschtag werde ich zu einem bewußtlosen Dani unter einem Felsüberhang gerufen. Mit anderen Papuas war er auf dem Rückweg von einem Ausflug zur Mine erkrankt und liegt jetzt schon seit längerem nicht ansprechbar im Koma. Der Ernst der Lage ist sofort erkennbar, und ich versuche mit Infusionen und Spritzen den lebensbedrohlichen Zustand zu stabilisieren. Es stellt sich heraus, daß der Dani höhenkrank ist bzw. ein Lungenödem hat und - wie wir erst viel später erfahren - schon seit vier Tagen hier auf über 3600 m Höhe liegt. Da eine Hubschrauberrettung nicht möglich ist, transportieren die Danis, sich abwechselnd, auf einer primitiven Trage aus Ästen den Schwerkranken übers Plateau, durch Sümpfe und Flüsse bis zu unserem nächsten Lager, wo es nicht mehr weitergeht. Da wir keinen Sauerstoff dabei haben und von der Höhe nicht herunterkommen, nützen auch meine verzweifelten Versuche mit hohen Kortison-Dosen nichts mehr - am Abend stirbt der erst 17-jährige Papua, ohne das Bewußtsein erlangt zu haben. Es zeigt sich wieder einmal, wie sehr wir trotz unserer technischen Fortschritte doch der Natur ausgeliefert sind. Alle sind niedergeschlagen, doch die Danis haben - wie alle Naturvölker - eine andere Einstellung zu Leben und Tod als wir. Unter unseren Trägern ist ein Pfarrer, der am nächsten Morgen eine Predigt hält. Dann wird der Verstorbene auf einen Scheiterhaufen gelegt und verbrannt.
Noch während das Feuer lodert, verlassen wir unseren Lagerplatz, an dem sich schon ein Papuagrab befindet, und laufen weiter. Am fünften und letzten Rückmarschtag legen wir gleich zwei Etappen auf einmal zurück. Nach Verlassen der Hochfläche geht es steil, sehr morastig und kraftraubend durch den Dschungel wieder hinunter in tiefere und bewohnte Lagen. Wieder erwischen uns Regenschauer, die wir stoisch unter unseren Regenschirmen ignorieren oder unter einer Zeltplane zusammen mit einigen Trägern abwarten. Als wir bei Einbruch der Dunkelheit unsere Rundhütten in Ilaga erreichen, sind wir froh, daß wir diesen anstrengenden Marsch endlich hinter uns haben. Ein beliebtes Trekking wird diese Route wegen der Strapazen und vielen Niederschläge vermutlich nie werden.
Als wir uns am nächsten Tag in Ilaga erholen, ahnen wir nicht, daß wir noch eine ganze Woche für den Rückflug bis Europa brauchen werden. Wir sortieren zunächst unsere Ausrüstung, verschenken einiges an die Träger, schreiben Postkarten oder führen Tagebuch, waschen uns oder etwas Wäsche, essen und schlafen ausgiebig, suchen nach Souvenirs und beobachten die Einheimischen, die uns genauso interessiert zuschauen.
Auf dem dörflichen Fußballplatz mit großen Pfützen und Schlammlöchern kämpfen - heute am Sonntag - zwei junge Danimannschaften mit Können, Einsatz und Begeisterung um den Ball, alle barfuß und manche bis auf den Penisköcher völlig nackt. Einmal zähle ich 47 Spieler auf dem Platz! Ich bin so beeindruckt von diesem Schauspiel, daß ich mitten auf dem Spielfeld zu filmen anfange. Und nebenan spielen sogar Mädchen Volleyball - mitten im tiefsten Dschungel von Neuguinea!
Am folgenden Tag - dem geplanten Rückflugtermin - laufen wir umsonst zur Landepiste oberhalb der Ortschaft. Da nur ein Sichtflug möglich ist, kann bei Regen und Wolken keine Maschine fliegen. Noch bleiben wir gelassen, aber als am nächsten Tag trotz schönen Wetters wegen eines Organisationsfehlers wieder kein Flugzeug kommt, wird die Lage langsam kritisch. Erst am dritten Tag können wir trotz zweifelhafter Wetterverhältnisse ausfliegen - dafür sind jetzt unsere Anschlußflüge weg! In zwei Tagesetappen fliegen wir nach Bali, wo wir wegen einer ausgebuchten Maschine hier sogar noch einen Tag warten müssen. Nach der Einsamkeit und Ursprünglichkeit Neuguineas erscheint uns das Leben in Balis Touristenzentrum jetzt wie ein hektischer Großstadtrummel. Wir sind nicht mehr sehr aufnahmefähig, es reicht gerade noch zu einem Ausflug und ein paar Souvenireinkäufen. Ein langer, eintöniger Flug bringt uns mit drei Tagen Verspätung ins winterliche Mitteleuropa zurück.
Die Eindrücke dieser Reise sind so außergewöhnlich und abseits unseres normalen mitteleuropäischen Denkens und Erfahrungsschatzes, daß jede Beschreibung nur unvollkommen gelingen kann. Vielleicht helfen meine Bilder und Filme, das Erlebnis dieses Abenteuers lebendiger und plastischer darzustellen als meine geschriebenen Worte.
Natürlich beeindruckt uns die Natur mit ihrem dichten Dschungel, den Hochlandsümpfen und den wilden Felsbergen. Auch bergsteigerisch können wir mit unseren Klettertouren und einer schönen Erstbegehung zufrieden sein. Das Entscheidende aber sind die Kontakte mit den Papuas. Der gemeinsame Anmarsch und das Zusammensein mit den Papuas macht den eigentlichen Reiz dieser Reise aus - das ursprüngliche Ziel, die Besteigung der Carstenszpyramide, tritt schon unterwegs und erst recht in der Erinnerung im Vergleich zu diesen Erlebnissen deutlich zurück.
Die Lebensart der Danis ist auch heute noch stark von ihrem Steinzeiterbe geprägt, auch wenn sie dabei sind, sich allmählich den Fortschritten unserer Zeit anzupassen. Trotzdem haben sie ihre Identität, Natürlichkeit und Unbefangenheit bis jetzt bewahren können. Die zweifelhaften Errungenschaften unserer Zivilisation, wie etwa Alkohol, haben hier noch keinen Schaden angerichtet. Obwohl die Gefahr besteht, daß ein zu großer Touristenstrom hier einiges zerstören kann, habe ich die Hoffnung, daß die Ureinwohner Neuguineas aufgrund der natürlichen Ausgeglichenheit ihren eigenen Weg finden werden.
Diese mehr kulturellen Erfahrungen sind zweifellos die nachhaltigsten Eindrücke während unserer so exotischen Reise. Alles zusammen aber ist wieder ein unvergeßliches Erlebnis und Abenteuer!
Reisedauer: 4. November bis 5. Dezember 1993
Teilnehmer: Hans Eitel, Heidelberg; Ekkert Gundelach, Konstanz; Jan Kocher, Baden/CH; Veronika Meyer, Uettligen/CH; Ramon Portilla, Madrid/Spanien; Walter Treibel, München.