Schon seit Tagen sitze ich bei Schlechtwetter zusammen mit einer internationalen Schicksalsgemeinschaft von 30 Personen in Patriot Hills, nur etwa 1000 km vom Südpol entfernt. Wir sind eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Bergsteigern, Südpol-Schlittenteams, Flugtouristen, Wissenschaftlern, Piloten und anderen Outdoor-Abenteurern. Hier ist man den Naturgewalten trotz aller Technik noch ziemlich machtlos ausgeliefert. Bei schlechtem Wetter ohne Sicht oder zu viel Wind besteht keine Möglichkeit, mit dem Flugzeug herauszukommen, und es bleibt nichts anderes übrig, als bessere Wetterbedingungen abzuwarten. Wir sind 3500 km von der Zivilisation entfernt - um uns herum ist nur Eis, Fels und Himmel!
Mit "Antarktika" wird im allgemeinen der eigentliche antarktische festländische Kontinent bezeichnet, während man unter "Antarktis" das gesamte Südpolargebiet einschließlich der dazugehörigen Schelfeismassen und des Packeisgürtels versteht. Im folgenden wird der Einfachheit halber nur von "Antarktis" gesprochen.
Die Antarktis, der zuletzt entdeckte Kontinent, ist der höchste, trockenste, kälteste (bis -88,3 Grad Celsius gemessen!), windigste und daher auch abweisendste von allen. Er ist mit seinen 14 Millionen Quadratkilometer doppelt so groß wie Australien und noch deutlich größer als Europa. Die Landmasse ist mit einer bis 4000 m mächtigen und steil zum Meer abfallenden Inlandeisdecke überzogen, aus der an wenigen Stellen Gebirge bis 5000 m Höhe (Vinson-Gebiet) aufragen. An den Küsten toben oft heftige Stürme, seine Vegetation ist sehr spärlich und besteht nur aus Moosen und Flechten. Im küstennahen Meer ist reiches Tierleben (Pinguine und Robben) zu finden, während an der Treibeisgrenze Wale vorkommen.
Die Antarktis ist wegen ihrer riesigen Eismassen das größte Süßwasser-Reservoir der Welt und könnte bei der in Zukunft zu befürchtenden Erwärmung des Weltklimas verheerende Folgen auslösen.
Das einstmals unermeßliche Fischvorkommen war auch der Ausgangspunkt des großen Interesses am Südpolargebiet. Aber auch aus militärischen Gründen und wegen der vermuteten reichen Bodenschätze war die Antarktis Kolonial-Ziel einiger Anrainerländer und Großmächte. Derzeit forschen einige Nationen inklusive Deutschland an der Küste oder im Landesinneren: eine aus umweltpolitischer Sicht sehr gefährliche Ausbeutung der Bodenschätze gibt es zum Glück bisher nicht. Die bisherigen territorialen Ansprüche wurden im Antarktisvertrag von 1959 und erneut 1991 ausgeklammert. D.h. sie sind völkerrechtlich noch in der Schwebe, haben wohl aber keine Chance, international anerkannt zu werden. So ist die Antarktis der einzige Kontinent der Welt, auf dem noch keine Kriege stattgefunden haben und der nur friedlich erforscht wird.
Seefahrende Abenteurer auf der Suche nach Schätzen suchten lange vergebens nach dem unbekannten Kontinent, der von Kartographen schon vor Jahrhunderten vermutet wurde. Erst der britische Seefahrer James Cook entdeckte bei seiner zweiten Weltreise (1772 - 1775) die wirklich existierende Landmasse hinter dem fast undurchdringlichen Packeisgürtel. Mit Cook endete daher die Antarktissuche, und es begann die äußerst schwierige Südpolarforschung.
Erst etwa 45 Jahre nach Cook stießen von Bellighausen und kurze Zeit später Weddell weit in die nach ihnen benannte Meere vor. Jedoch erst die Südpolarexpedition von James Clarke Ross (1839 - 1842) war echte Forschung auf dem Kontinent. Rossmeer, Victorialand und der Vulkan Erebus wurden entdeckt. Um die Jahrhundertwende bemühten sich einige deutsche und schwedische Expeditionen, die Forschungen voranzutreiben. Die Briten Scott und Shackleton drangen 1901 - 1904 auf Schlittenreisen bis über 82 Grad südlicher Breite vor. Während der Shackleton-Expedition 1908 - 1909 wurde in 2200 m Höhe der magnetische Südpol erreicht und der Mount Erebus (4023 m) bestiegen. Er selbst entdeckte den Beardmore-Gletscher, der als größter Gletscher der Welt gilt, mußte aber bei dem Versuch, den Südpol zu erreichen, nur 178 km vor dem Ziel umkehren. Im Dezember 1911 schaffte es der Norweger Amundsen, als erster den Südpol zu erreichen. Er gewann den großen Wettlauf mit dem Briten Scott und kehrte zurück, während Scott vier Wochen später zwar ebenfalls den Südpol erreichte, aber tragischerweise beim Rückmarsch zusammen mit zwei Begleitern durch Erschöpfung und zu geringe Nahrungsmittelvorräte ums Leben kam.
Es bleibt aber noch eine weitere fast unglaubliche Südpol-Expedition zu erwähnen. Im Jahr 1914 wollte der bereits erwähnte Shackleton mit dem Schiff "Endurance" eine Transantarktis-Expedition vom Weddell-Meer aus durchführen. Eine Nachschubmannschaft mit der "Aurora" sollte auf der anderen Seite der Antarktis am McMurdo-Sund landen, um von dort aus in Richtung Südpol einige Depots zu errichten.
Aber alles kam ganz anders. Zunächst wurde die "Endurance" im Packeis eingeschlossen und abgetrieben, bis das Schiff schließlich durch den enormen Druck des Eises zerstört wurde und sank. Mit den kleineren Rettungsbooten gelang es Shackleton und der Mannschaft unter unsäglichen Mühen und Gefahren, über Eis und Meer die Elephant-Insel und damit festes Land zu erreichen. Während der Großteil der Mannschaft auf der unbewohnten Insel zurückblieb, segelte Shackleton mit einigen wenigen Leuten in einer verzweifelten Aktion mit einem offenen Boot über das Meer nach Norden, um von dort Hilfe zur Rettung der Zurückgebliebenen zu organisieren. Bei der Landung auf der Insel South Georgia wurde jedoch einer seiner Begleiter schwer verletzt, der erst gerettet werden konnte, als Shackleton mit seinen restlichen Männern nach einem schwierigen Marsch über vergletschertes Gebirge zu der Walfangstation auf der anderen Inselseite gelangte.
Von dort aus wurden drei vergebliche Rettungsaktionen zur Elephant-Insel gestartet. Erst beim vierten Versuch eines Eisbrechers, der von Südamerika aus aufbrach, gelang es, die verbliebenen und wartenden Expeditionsteilnehmer zu retten. Es ist fast ein Wunder, daß die gesamte Expeditionsmannschaft die unmenschlichen Strapazen und Gefahren lebend überstand!
Was Shackleton plante, gelang erst 1957/58 dem Briten Vivian Fuchs, der mit seinem motorisierten Schneemobil-Konvoi von der Shackleton-Base am Filchner-Schelfeis aufbrach und nach Erreichung des Südpols auf der von Edmund Hillary mit Traktoren vorbereiteten Route planmäßig zur Station am McMurdo-Sund gelangte.
Zwischen Oktober 1989 und März 1990 konnte Reinhold Messner zusammen mit dem Deutschen Arved Fuchs erstmals die alte Idee einer Antarktisdurchquerung zu Fuß mit Hilfe von Skiern, selbstgezogenen Schlitten sowie Gleitsegeln und zwei Depots verwirklichen. Seitdem gab es eine Reihe von weiteren Abenteurern, die auf verschiedenen Routen und zum Teil auch alleine den Südpol aus eigener Kraft erreichten oder den ganzen Kontinent durchquerten. Trotz verbesserter Ausrüstung und Technik bleibt dies aber auf Grund der riesigen Entfernungen, der extremen Wetterbedingungen und der großen Isolation nach wie vor ein schwieriges und gefährliches Unternehmen.
Obwohl schon länger geplant, wird unsere Zweimann-Expedition endgültig erst im September 1997 beschlossen. Ralf Dujmovits, erfahrener Bergführer und erfolgreicher Höhenbergsteiger, mit dem ich bereits zwei Expeditionen in Nepal durchgeführt habe , hat die Mount-Vinson-Besteigung bereits dreimal organisiert. Er erklärt sich bereit, auch mit mir allein loszufahren, nachdem kein anderer Interessent für dieses teure und ungewöhnliche Unternehmen aufzutreiben ist.
Obwohl ich diesmal bereits eine Woche vor Abflug anfange, die wichtigsten Sachen zu packen, wird es am Ende zeitlich doch wieder sehr eng. Ich muß für meine Praxis aus Termingründen insgesamt drei befreundete Kollegen als Vertreter organisieren. Dann bleiben noch jede Menge anderer Erledigungen und Papierkram übrig, so daß ich diesmal sogar zwei Nächte hintereinander mit nur einer halben Stunde Rast durcharbeiten muß!
Noch nie habe ich mich auf einen Flug mehr gefreut als diesmal - endlich schlafen können und keine Aufgaben mehr! Ich bin so müde, daß ich gleich zweimal hintereinander den Start glatt verschlafe! In Frankfurt treffe ich Ralf, und wir fliegen zusammen auf der Transatlantikroute in die USA nach Dallas, wo wir uns über einen halben Tag aufhalten müssen, bevor es nach Santiago de Chile in Südamerika weitergeht. Hier habe ich vier Stunden Zeit, das Stadtzentrum kennenzulernen, und bekomme so einen kleinen Überblick über die sehr europäisch wirkende Hauptstadt des Landes. Jetzt im Sommer ist es so heiß, daß ich mir sogar einen Sonnenbrand hole. Als wir nach dem Weiterflug endlich in Punta Arenas, der südlichsten (chilenischen) Großstadt ankommen, ist es bereits Mitternacht. Nach dem Duschen komme ich nach drei Nächten zum ersten Mal wieder in den Genuß eines Bettes!
Bis zum Weiterflug in die Antarktis bleiben mir zwei Tage, die ich für einen Ausflug in die patagonischen Berge nützen möchte. Am nächsten Morgen organisiert daher Ralf, der gut spanisch spricht, einen Leihwagen für mich - einen Pickup mit Doppelkabine und Vierradantrieb. Obwohl relativ teuer, lohnt sich dieser Aufwand sehr, denn ich bin dadurch schnell und unabhängig.
Auf der Fahrt nach Norden überhole ich nach circa 80 km einen vollbepackten Radfahrer, mit dem ich nach einem Fotostop ins Gespräch komme. Er ist Schweizer, ein ehemaliger professioneller Triathlet, der bei starkem Gegenwind über mein Angebot sehr froh ist, mit mir weiterfahren zu können. Nach insgesamt 250 km erreichen wir die Hafenstadt Puerto Natales, wo wir noch gemeinsam essen, bevor ich - wieder alleine - zum Torres del Paine Nationalpark weiterfahre. Bei meinen vielen Fotostops komme ich dort erst spät am Abend an - aber während der Sommerzeit ist es hier so weit im Süden noch sehr lange hell, und ich erlebe eine großartige Sonnenuntergangsstimmung. Da ich kein Zelt bei mir habe, lege ich mich mit meinem Schlafsack auf dem Campingplatz einfach unter einen Tisch.
Am nächsten Morgen mache ich eine Wanderung zum Fuß der Paine-Türme, drei interessante steile Granitberge. Der Himmel darüber ändert sich von Minute zu Minute - der allgegenwärtige Wind in Patagonien ist hier ein Sturm, der die Wolken mit rasender Geschwindigkeit vor sich hertreibt. Mit mir sind noch eine Reihe anderer Wanderer unterwegs, da gerade Hochsaison ist.
Anschließend fahre ich kreuz und quer durch den Nationalpark und genieße und fotografiere diese wilde Naturlandschaft. Erst um sechs Uhr abends mache ich mich auf den 400 km langen Rückweg, der zur Hälfte aus Schotterstraßen besteht. Mit meinem Geländefahrzeug fahre ich auf Schotterpisten z.T. über 100 km pro Stunde, voll konzentriert wegen der Schlaglöcher. Unterbrochen wird die Fahrt nur durch einen Tankstop sowie eine Polizeikontrolle, wobei der Beamte meinen Führerschein sehen will. Zum Glück kann ich ihm meinen Personalausweis präsentieren, und ich bekomme noch die Mahnung mit auf den Weg, nicht schneller als 100 km/Stunde zu fahren. Das kümmert mich aber wenig. Da ich jetzt Rückenwind habe und auf der einspurigen Asphaltfahrbahn permanent Vorfahrtsrecht habe, müssen die wenigen entgegenkommenden Fahrzeuge auf die zweite danebenliegende Schotterfahrbahn ausweichen. Nur 20 km vor dem Ziel habe ich jedoch noch eine Reifenpanne und muß bei hereinbrechender Dunkelheit das Reserverad montieren. Trotzdem bin ich nach nur fünf Stunden zurück in Punta Arenas. Demnächst muß ich wohl an der Rallye Paris - Dakar teilnehmen!
Die Antarktis ist touristisch kaum erschlossen, bis vor kurzem konnten nur Entdecker und Wissenschaftler mit nationaler Unterstützung diesen Kontinent erreichen. Erst seit acht Jahren bietet im kurzen antarktischen Sommer (November bis Januar) die kanadische Organisation "Adventure Network International" - nicht nur für professionelle Abenteurer, sondern auch für Privatpersonen - Flüge in die Antarktis und zum Südpol an. Die logistischen Probleme dafür sind enorm hoch. Die benötigten Propellerflugzeuge in der Antarktis (Twin Otters) müssen aus Kanada den ganzen amerikanischen Kontinent entlang fast 15000 km nach Süden fliegen, um das Lager mit Zelten und Funkstation aufzubauen. Erst nach diesen Vorarbeiten und entsprechendem Flugwetter kann eine (südafrikanische) Herkules-Frachtmaschine aus Punta Arenas mit Material und Passagieren (maximal 35) den 3500 km langen und sechs Stunden dauernden Flug in die Antarktis antreten. In Patriot Hills besteht die einzige Landebahn aus Natureis, auf der ein Flugzeug mit Rädern landen kann - gerade noch innerhalb der maximalen Reichweite der Treibstoffvorräte. Diese müssen so bemessen sein, daß bei Schlechtwetter ohne Landemöglichkeit noch nach Punta Arenas zurückgeflogen werden kann (insgesamt 7000 km), da Zwischenlandungen nicht möglich sind.
Die amerikanische Südpolstation wird ebenfalls von einer Herkules-Maschine versorgt. Sie kommt von Neuseeland, muß aber an der antarktischen Küste bei McMurdo zwischenlanden, da sie mit Skiern ausgerüstet langsamer fliegt und mehr Sprit verbraucht. Eine private Nutzung ist jedoch nicht erlaubt - diese Regel gilt übrigens bei allen nationalen Forschungsstationen.
Ralf hat in der Zwischenzeit Vorräte besorgt, so daß wir jetzt für die Antarktis bereit sind. Aber wir müssen uns noch zwei Tage gedulden - am Landeplatz Patriot Hills ist zuviel (Seiten-) Wind, und der Flug wird von Stunde zu Stunde verschoben. Einmal fahren wir sogar umsonst zum Flugplatz hinaus. So bleibt mir endlich Zeit, etwas Schlaf nachzuholen oder einige Artikel über die Antarktis zu lesen.
Abends gehen wir mit anderen Antarktis-Aspiranten zum Essen und lernen uns so gegenseitig kennen. Da ist zum Beispiel der Amerikaner Peter, der seit 13 Jahren in München lebt und seine Skier mitgebracht hat, zwei finnische Profibergsteiger, die neue Gipfel besteigen möchten, die britische Rechtsanwältin Karen aus London, der polnische Polarwanderer Marek, der im Jahr zuvor zum Südpol gelaufen ist, oder eine belgische Gruppe, die zur 100-Jahr-Feier der ersten (belgischen) Überwinterung in der Antarktis eine Jubiläumsexpedition organisiert hat. Da deren Mitglieder zum großen Teil wenig Bergerfahrung haben, werden sie von je zwei französischen und franko-schweizerischen Bergführern begleitet. Zusätzlich ist ein professioneller Kameramann dabei, der einen Fernsehfilm über das gesamte Ereignis dreht. Als Kleingruppe suchen Ralf und ich jedoch zunächst lieber engeren Kontakt mit den anderen Einzelreisenden.
Wir sind alle froh, als es am 24. Dezember endlich losgeht. Am Flughafen wird noch einmal ganz genau jedes einzelne Gepäckstück gewogen (ein Kilogramm Übergepäck kostet 60 US-Dollar!), dann gibt es noch einige Fotos vom Flugzeug. Schließlich sind alle 35 Antarktis-Aspiranten, inklusive eines japanischen Filmteams, fünf einzelner Südpoltouristen sowie einer Menge Gepäck an Bord. Hier gibt es keinerlei Komfort: Zwei Toiletten sind hinter Vorhängen notdürftig abgeschirmt, und im Heck stehen zwei Feldbetten für die Besatzung, die aus insgesamt drei Teams besteht, die sich gegenseitig beim sechsstündigen Flug abwechseln. Das Essen (belegte Brote) wird improvisiert auf einem Campingtisch zubereitet. Doch dieser Flug hat eine besondere (abenteuerliche) Atmosphäre, erst recht, als wir zunächst Tausende von schwimmenden Eisbergen und dann die Küste bzw. abbrechendes Schelfeis sowie die ersten Gebirgszüge erreichen. Wir können auch im Cockpit ungehindert fotografieren und filmen.
Als wir nach der Landung das Flugzeug verlassen, ist es windig und kalt, und da die Landebahn aus hartem Eis besteht, muß man auch noch ganz vorsichtig gehen, um nicht gleich zu stürzen. Doch jetzt sind wir mitten in der Antarktis!
Das Camp von Patriot Hills besteht aus Dutzenden von Zelten. Das größte ist das Küchen- und Verpflegungszelt, es gibt eine Werkstatt, einen Funkraum, eine (geheizte) Bücherei und sogar ein kleines Waschzelt (normalerweise mit einer halbleeren Thermosflasche Wasser). Nur das für 2 - 3 Monate stationierte Personal genießt den Luxus, auch eine Dusche zu benutzen, da alles Wasser mit viel Energieaufwand aus Schnee geschmolzen werden muß. Die zwei Toiletten sind in einem Schneehaus installiert, und zusätzlich gibt es für die ganzen Vorräte eine große Schneehöhle, die auch im langen antarktischen Winter erhalten bleibt, wenn das Lager abgebaut ist.
Nach dem Abendessen schlafen 16 Bergsteiger in einem großen, leeren Lagerzelt auf dem Boden - ziemlich wenig Komfort bei den hohen Preisen!
Dafür können wir am nächsten Tag, dem 25. Dezember, mit zwei Twin Otter Flugzeugen und einer Cessna ins Vinson-Basecamp auf etwa 2000 m Höhe weiterfliegen. Wir landen mitten auf einem Gletscher in einer beeindruckenden Eis- und Berglandschaft bei strahlendem Sonnenschein. Hier stellen wir erst einmal unsere Zelte auf - die ziemlich komplizierte Anreise über drei Kontinente haben wir jetzt hinter uns.
Jetzt ist es auch an der Zeit - nach englischem Brauch - Geschenke zu verteilen: Ralf bekommt von mir ein Pinguin-Stofftier als Talisman, ich von ihm eine Spezialitäten-Pralinenschachtel. Selbstgebackene Plätzchen von zuhause runden diesen ersten Weihnachtsfeiertag ab - wir sind zufrieden.
Am nächsten Morgen packen wir unsere Ausrüstung: in den Rucksack persönliche Gegenstände und Kleidung usw., auf die beiden geliehenen Plastikschlitten Essensvorräte, Benzin, Schaufel, Zelt und Kletterausrüstung - für jeden etwa 40 kg. Wir starten etwas später als die Belgier, überholen sie aber bald, da es in so einer großen Gruppe immer wieder zu Verzögerungen kommt. Bis zum Abend haben wir sie völlig aus dem Gesichtsfeld verloren. Jetzt beginne ich auch wieder konsequent zu filmen, und der geduldige Ralf ist mein Hauptdarsteller - von vorne, von hinten, von der Seite, von oben und unten. Nach sechs Stunden und 800 Höhenmetern erreichen wir in ziemlicher Entfernung das erste Hochlager unter der gewaltigen Vinson-Westflanke.
Die Lagerplatz-Routine ist immer die gleiche: Zeltplatz ausschaufeln bzw. Boden festtreten, eine Schneemauer als Windschutz einschließlich einer geschützten Kochnische errichten, Kocher in Gang setzen und Schnee schmelzen, währenddessen das Zelt aufbauen sowie Isoliermatten, Schlafsäcke, Reservewäsche und sonstige Utensilien im Zelt unterbringen. Irgendwann ist dann das erste Wasser warm, wir entscheiden uns für ein heißes Getränk oder Suppe und genießen eine wohlverdiente Ruhepause. Wir brauchen aber natürlich noch viel mehr Wasser für ein Hauptgericht, für weitere Getränke oder eine Nachspeise und um unsere leeren Thermosflaschen wieder aufzufüllen. Irgendetwas muß sicher repariert oder umgepackt werden, und auch der Toilettenbau erfordert einige Arbeitszeit. Da in der Antarktis aufgrund der niedrigen Temperaturen nichts verrotten kann und strenge Umweltsschutzbedingungen bestehen, muß alles wieder mitgenommen werden "even if it is eaten before!" Das geschieht mit Hilfe von Plastiksäcken, wobei der Inhalt zum Glück sofort gefriert.
Wenn wir endlich satt, müde und zufrieden im Schlafsack liegen, ist das Einschlafen nicht leicht: entweder ist der Kopf noch voller Gedanken oder der 24 Stunden dauernde Sonnenschein bringt den Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinander. Wenn allerdings die Sonne hinter einem Berg verschwindet, kann es im Schatten schnell unangenehm kalt werden, und man muß dann später noch einiges mehr an warmer Kleidung anziehen. Während der Nacht vereist das Zelt normalerweise innen völlig durch Rauhreifbildung, und wir warten daher mit dem Aufstehen meist auf die wärmenden Sonnenstrahlen. Trotzdem kostet es immer einige Überwindung, aus dem warmen Schlafsack herauszukriechen und den Benzinkocher in Gang zu setzen.
Das Frühstück besteht aus Cappuccino, Vollkornbrot mit Marmelade, Salami oder Schinken und Müsli. Endlich in Schwung gekommen, wird der morgendliche Toilettengang absolviert, dann geht es ans Einpacken: Kleidung, Schlafsack, Isoliermatten, alle möglichen Kleinigkeiten, Essensvorräte einschließlich Tagesrationen für unterwegs, alles muß wieder verstaut werden. Das dauert natürlich immer eine ganze Weile, und meist ist es bereits Mittag, bevor wir weiterlaufen. Nach einer Tagesetappe mit mehreren Pausen beginnt am Abend das gleiche Spiel wieder von vorne.
Im Gegensatz zu den Belgiern haben wir keine Skier dabei, da sich der ganze (Transport-) Aufwand für nur 2 - 3 Tage kaum lohnt. Die zweite Etappe ist relativ kurz, so haben wir am Spätnachmittag genügend Zeit zum Kochen und Zeltaufstellen. Die Belgier sehen wir erst am Abend wieder - bis dahin sind wir völlig alleine, zumal sie am Tag zuvor auch einen anderen Lagerplatz gewählt haben. Ein Mitglied von ihnen muß wegen gesundheitlicher Probleme bzw. Konditionsmängel ins Basislager zurückgeschickt werden, bei den anderen ist das Tempo wegen des schweren Gepäcks deutlich langsamer geworden.
Ralf und ich steigen am nächsten Morgen mit halbem Gepäck über einen steilen Gletscherbruch weiter zu Lager 3 auf. Hier können wir keinen Schlitten mehr verwenden und müssen alles im Rucksack transportieren. Der Aufstieg ist mit seinen Steilhängen, Spaltenzonen und den Seracs am Rande sehr fotogen, weshalb wir eine ganze Weile zum Fotografieren und Filmen brauchen. Im Sattel zwischen dem Mount Vinson und dem Mount Shinn errichten wir auf fast 4000 m Höhe am vorgesehenen Zeltlager ein Gepäckdepot. Auf dem Rückweg treffen wir die vier Bergführer der Belgier, die dasselbe machen, während sich die Gruppe im Lager erholt bzw. akklimatisiert und hier auch einige Übungen mit Steigeisen an Schneewänden durchführt. Wir sind ziemlich erstaunt, daß einige kaum Steigeisenerfahrung haben! Daß sie später doch alle den Gipfel erreichen, ist nur dem guten Wetter, dem Können der Führer und einer großen Portion Glück zu verdanken! Ich hatte einige technische, konditionelle oder höhenbedingte Ausfälle befürchtet!
Am Abend sind wir alle zurück im Lager 2 - zusätzlich sind noch Peter und Karen mit ihren amerikanischen Führern angekommen, nachdem sie einen Tag später vom Basislager gestartet sind. Dave ist ein klassischer amerikanischer Guide, der die ganze kurze Sommersaison hier am Mount Vinson arbeitet, während Conrad Anker als Bigwall-Spezialist und einer der besten Allroundalpinisten überall in der ganzen Welt als Profikletterer und teilweise ebenfalls als Führer unterwegs ist.
Obwohl die Belgier am nächsten Morgen lange vor uns starten, überholen wir doch die meisten bis Lager 3. Wieder heißt es, das Zelt aufzubauen, wobei wir diesmal die Höhe - immerhin knapp 4000 m - schon spüren. Da ich mich jedoch noch gut fühle, baue ich wieder einmal die Toilette aus. Als ich damit gerade fertig bin, kommen Karen und Dave sowie Peter und Conrad an. Karen ist völlig erschöpft, wahrscheinlich eine Kombination aus ungewohnter Höhe, mangelnder Kondition und Technik sowie psychischer Überforderung. Nach der Einnahme von Tabletten und etwas Flüssigkeit schläft sie eine Weile in unserem Zelt, bis die anderen mit ihrem Zeltaufbau fertig sind.
Am nächsten Morgen starten Ralf und ich als erste zum Gipfel, wobei ich diesmal - im Gegensatz zu anderen hohen Bergen - die letzte Etappe ausgiebig filme. Auf halber Höhe ziehen wir Überhosen und alle sonstige warme Kleidung an, da eiskalter Wind einsetzt. Auf einer direkten Route über einen steilen Schlußhang erreichen wir den Gipfel des Mount Vinson bei minus 25 Grad Celsius und Sturmwind. Trotzdem halten wir uns mit Fotografieren, Filmen, Gipfeleintragung und Funken fast 45 Minuten auf dem höchsten Punkt der Antarktis auf. Der Gipfel ist erst 1966 von einer amerikanischen Expedition mit logistischer Unterstützung durch die Regierung erstbestiegen worden. Die Transport-Probleme mit Anreise per Flugzeug, mit Treibstoffdepots, schwierigen Wetter- und Kommunikationsproblemen sind so groß, daß erst 1989 die dritte Besteigung erfolgt. Diese führt zur Gründung von "Adventure-Network" und ist gleichzeitig der Beginn einer kommerziellen Antarktis-Erschließung für Bergsteiger sowie für Flugtouristen und Schlittenteams, die den Südpol aus eigener Kraft erreichen wollen. Seitdem haben mit Unterstützung dieser Organisation bis heute circa 350 Bergsteiger den Mount Vinson erreicht - ich bin der neunte Deutsche. Viele Besteiger wollen ihre "Seven Summits" komplettieren - bis jetzt haben dies etwa 80 Bergsteiger weltweit geschafft.
Peter und Conrad sowie alle Belgier erreichen ebenfalls den Gipfel, wenn auch z.T. mit erheblichen Schwierigkeiten, während Dave und Karen aus verschiedenen Gründen wieder ins Basislager absteigen. Der Gipfel ist für mich technisch leichter als erwartet und das Pflichtprogramm schneller als vermutet erfüllt. Doch wir wollen ja noch mehr unternehmen!
So starten Ralf und ich gleich am folgenden Tag zum dritthöchsten Berg der Antarktis, zum gegenüberliegenden Mount Shinn. Kurzentschlossen gehen auch noch zwei aus der Belgiergruppe mit uns: Gerard, einer der beiden französischen Führer, der gerade seine "Seven Summits" vollendet hat, und der beste belgische Bergsteiger Paulo. Nach einer langen Querung über den weiten Sattel und über Blankeisfelder steigen wir spiralförmig den Berg hinauf. Den circa 50 Grad steilen Gipfelaufbau besteigen wir direkt und anspruchsvoll auf einer kombinierten Route über Eis und Fels, wobei der Schlußhang zwischen zwei riesigen Seracs hindurch auf den 4800 m hohen Gipfel hinaufführt. Diese Tour und das Gipfelpanorama sind sehr fotogen, aber wieder weht ein eiskalter Wind auf dem Gipfel. Beim Filmen hole ich mir durch den Kontakt mit Metall sogar eine leichte Erfrierung der Nasenspitze.
Der Abstieg durch verschneites Blockgelände auf der anderen Bergseite ist leicht, trotzdem dauert es eine Weile, bis wir wieder beim Lager 3 angelangt sind. Die ganze belgische Gruppe ist inzwischen ins Basislager abgefahren, nur Peter und Conrad haben noch eine Skitour hier oben unternommen. Da es schon spät ist, bleiben auch Gerard und Paulo hier oben und wir feiern alle zusammen im größten Zelt Silvester. Zum Schluß, d.h. um Mitternacht, sind wir allerdings nur noch zu dritt, da unsere beiden Tourenbegleiter vorzeitig müde in ihren Schlafsack kriechen und Conrad um zehn Uhr abends auf die Idee kommt, noch schnell den Mount Shinn solo auf der gleichen Route wie wir zu besteigen. So feiern wir zu dritt um Mitternacht mit Champagner den Jahreswechsel bei minus 27 Grad Celsius. Bei dieser Temperatur ist der Gang auf unsere Freilufttoilette schon eine ganz schön harte Angelegenheit! Endlich im warmen Schlafsack höre und sehe ich noch um circa zwei Uhr Conrad vom Mount Shinn zurückkommen.
Nach einem späten Frühstück sind wir total erstaunt, als plötzlich Conrad von unten heraufkommt. Er ist noch in der Nacht mit überflüssiger Ausrüstung und Skiern zum Basislager abgefahren, und feiert dort mit den anderen noch bis zum Morgen im Verpflegungszelt. Allerdings steigt er dann nach zwei Stunden wieder zum Lager 3 auf, knapp 2000 Höhenmeter!
Von Ralf erfahre ich dann noch, daß Conrad und sein Freund Alex Lowe beim alljährlichen russischen Expeditions-Wettkampf am 7000 m hohen Kang Tengri (Basislager - Gipfel - Basislager: circa 3000 Höhenmeter und einige Entfernung) auf Anhieb gewonnen und dabei den jahrelang bestehenden Rekord von 28 Stunden gleich um zehn Stunden unterboten haben! Aber so muß man wohl beschaffen sein, um auch in der Antarktis - wie die beiden einige Wochen zuvor - schwierige Erstbegehungen machen zu können.
Wir brechen unser Lager 3 ab und steigen mit Riesenrucksäcken inklusive aller Ausrüstung wieder ins Lager 2 hinunter. Hier haben wir noch eine Menge Verpflegung und Material deponiert, die wir jetzt wieder auf unsere Schlitten packen. Auf halbem Weg hinunter zu Lager 1 biegen wir jedoch von der Aufstiegsspur ab und queren ein großes Plateau, um noch einen weiteren Gipfel zu besteigen, während die anderen alle ins Basislager abfahren. Wieder einmal bauen wir unser Zelt auf - diesmal haben wir einen idealen Lagerplatz gefunden, der fast 24 Stunden nicht im Schatten liegt. So können wir ausnahmsweise warm und ohne Eis im Zelt komfortabel schlafen.
Gut erholt machen wir uns am nächsten Tag bei strahlendem Sonnenschein auf den Weg zu unserem geplanten Gipfel, der dem Hauptmassiv etwas vorgelagert ist. Nach einer Rast unterhalb des Gipfelaufbaus wollen wir zunächst den Schlußhang bis zu einem Felsgrat direkt besteigen, entschließen uns aber wegen Lawinen- bzw. Schneebrettgefahr zu einem längeren Umweg entlang des gesamtes Grates. Zum Schluß erreichen wir über abwechslungsreiche leichte Kletterei den Gipfel, einen hervorragenden Aussichtspunkt in circa 3600 m Höhe.
Unsere Freude ist zunächst allerdings etwas getrübt, als wir auf dem Gipfel den Wimpel einer vor drei Jahren durchgeführten spanischen Expedition vorfinden, da wir gehofft hatten, eine Erstbesteigung zu machen. Doch dann genießen wir bei Windstille und phantastischen Wetterverhältnissen fast zwei Stunden lang die herrliche Aussicht. Das Basislager und die Ebene vor der Gebirgskette sind völlig unter einer dichten Wolkendecke verschwunden, während wir hier oben bei einer Inversionslage bestes Wetter haben. Über Funk unterhalten wir uns mit dem Basislager und erfahren dabei, daß Conrad und Anselme, der zweite französische Fahrer und ein Spezialist für extreme Skisteilabfahrten, ein riesiges Schnee- und Eiscouloir erstbefahren wollen. Wir haben die beiden schon lange als winzige Punkte in der 1900 m hohen Steilflanke entdeckt und können die ganze Zeit über ihren Aufstieg bis zu einem Vorgipfel beobachten.
Nach fast zwei Stunden steigen wir wieder zu unserem Zelt ab und packen alles für den Abstieg zusammen. Der erste Teil des Rückmarsches in flachem Gelände ist etwas ermüdend, aber als es etwas steiler wird, können wir zumindest teilweise auf unseren Schlitten abfahren. Bald aber tauchen wir in das Nebel- und Wolkenmeer ein und erreichen schließlich nach insgesamt acht Tagen wieder das Basislager. Zuerst kommt die geparkte Twin Otter in Sicht - die beiden Piloten haben die ganze Zeit auf uns gewartet und im Basislager den Funkverkehr überwacht.
Wir kommen um etwa elf Uhr abends an, ein bis zwei Stunden später auch wohlbehalten unsere beiden Skifahrer. Conrad ist überglücklich, daß er mit Anselme diese bis zu 55 Grad steile Skierstbefahrung durchführen konnte, und das nur in Plastikbergschuhen! Das muß natürlich mit viel Wein gefeiert werden - wir bleiben bis fast sechs Uhr morgens auf.
Da wir zu faul sind, noch unser eigenes Zelt aufzustellen, schlafe ich bis nachmittags bei Conrad im Zelt. Wir können sowieso nicht ausfliegen, da wir uns nach wie vor in einer dicken Wolkenschicht befinden. Drei volle Tage vergehen ohne Wetteränderung - wir vertreiben uns die Zeit mit Schlafen, Lesen oder langen Diskussionen. Erst am Abend des dritten Tages nach unserer Ankunft im Basislager reißt die Wolkendecke auf - wir können endlich ausfliegen! Der Flug zurück ist bei tiefstehender Sonne und klarer Sicht ein Erlebnis sondergleichen: Bergketten und riesige Eisflächen bilden eine Symphonie aus Formen im monochromen Abendlicht!
Wir erreichen Patriot Hills am 5. Januar kurz vor Mitternacht. Unsere Besteigungen haben wir erfolgreich hinter uns gebracht - jetzt beim Rückflug in die Heimat kann eigentlich nicht mehr viel passieren. Doch was für ein Irrtum! Kein Flugwetter am ersten Tag - kein Problem, da schicke ich erst einmal ein Fax nach Hause. Sturm und White Out am zweiten Tag - durchaus fotogen und noch amüsant. Am dritten Tag haben wir allmählich nachlassenden Sturm, aber inzwischen sind die internationalen Anschlußflüge weg. Auch am vierten Tag ist immer noch kein Flugwetter - jetzt entstehen ernsthafte Terminprobleme und ich starte einen ersten Warn-Anruf nach Hause. Selbst am fünften Tag ist immer noch keine wesentliche Besserung in Sicht - übermorgen warten bereits die ersten Patienten am anderen Ende der Welt auf mich. Es gibt keine Chance mehr, rechtzeitig zu Hause zu sein! Auch am sechsten Tag ist die Situation unverändert - doch inzwischen haben sich alle in ihr Schicksal gefügt, und zu Hause muß es auch ohne uns irgendwie weitergehen!
Die Mahlzeiten sind die "Highlights" in Patriot Hills: Zum Frühstück gibt es Toast und Eier sowie Müsli, mittags und abends meist Suppe, selbstgebackenes Brot, eine gute Hauptmahlzeit und Nachtisch. Weiß- und Rotwein helfen bei einigen auch gut über die erzwungene Wartezeit und die Terminprobleme hinweg.
Ansonsten steht in einem extra geheizten Zelt eine kleine Bibliothek mit meist englischsprachigen Büchern zur Verfügung. Viele haben auch ihre eigene Schlechtwetterlektüre mitgebracht. Einige schreiben Briefe oder Tagebücher, schlafen viel, gehen etwas spazieren oder unterhalten sich mit anderen bei langen Diskussionen z.T. bis weit in die Nacht. Nach dem Mittagessen findet zur Abwechslung und zur Fortbildung jeweils ein interessanter Vortrag (auf Englisch) statt: Drei Isländer berichten über ihre Südpol-Schlittenreise (inklusive Vorbereitung und Ausrüstung), ich selbst informiere über Wildnis-Medizin, ein belgischer Gynäkologe spricht über Hypnose mit praktischer Vorführung, der Lagerleiter Steve über seine jahrelangen exotischen Erfahrungen auf Borneo, Ralf über die politische und kulturelle Situation in Nepal und so fort.
Auch für den Körper wird etwas Abwechslung geboten: Die Schneehöhle für den Winter wird mit Hilfe von Motorsägen vergrößert, und die ganzen Schneeblöcke müssen mühsam per Hand in einer Menschenkette an die Oberfläche geschafft werden. Zusammen mit dem Amerikaner Peter mache ich einen Skiausflug zum Wrack eines notgelandeten Flugzeugs, neun Kilometer vom Basislager entfernt. Der Weg über die weite Ebene hat gewisse Ähnlichkeit mit dem Marsch zum Pol, nur fehlen die über 100 kg schweren Schlitten! So bekommen wir einen Einblick in die Verlorenheit in diesen riesigen antarktischen Dimensionen, erfahren das auf Dauer doch monotone Geradeauslaufen, spüren die durch Wind verursachten dauernden Unebenheiten unter unseren Füßen und erleben auch eine rapide Wetterverschlechterung mit einem beginnenden White Out. Wir haben GPS-Gerät, Kompaß und Funkgerät dabei und finden so auch ohne Markierungen das Wrack des Flugzeugs, das zum Teil schon von Schnee zugeweht ist. Ich fotografiere Peter, der als interessierter Privatpilot selbst einmal zum Südpol fliegen will, wie er mit Skiern die Frontfenster freischaufelt. Als wir nach insgesamt fünf Stunden doch etwas müde zum Lager zurückkommen, ist mein Entschluß gefaßt, selbst keine Polwanderung durchzuführen - ich bleibe doch lieber beim Bergsteigen.
Während der erzwungenen Wartezeit ergibt sich die hervorragende Gelegenheit, die anderen Reisenden und auch das Personal von Patriot Hills näher kennenzulernen - im nachhinein gesehen eine der wichtigsten Erfahrungen aus der Antarktis.
Zum Glück sind eine ganze Menge interessanter Leute im Camp: drei Australier und drei Isländer, die jeweils als die ersten ihres Landes aus eigener Kraft in über 50 Marschtagen und mehr als 1000 Kilometern mit ihren Schlitten den Pol erreicht haben. Die Australier haben allerdings einige Erfrierungen davongetragen. Inzwischen sind noch einige Wissenschaftler im Camp eingetroffen, die mit einem Detektor die in der Antarktis besonders häufig vorkommenden Meteoriten suchen wollen.
Da auch das Personal eine ebenso bunt zusammengewürfelte Mannschaft von Individualisten darstellt, möchte ich einige Personen und Gruppen näher beschreiben.
Über einige Bergsteiger habe ich schon berichtet. Bei den Belgiern ist noch ein engagierter Filmproduzent dabei sowie ein etwas ausgeflippter, aber intelligenter Discjockey, während der jüngste 24-jährige Teilnehmer Urenkel einer der ersten Überwinterer und Sohn eines weiteren Antarktisforschers ist.
Die drei Australier wollten beweisen, daß sie auch als "normale Outdoor-Sportler" fähig sind, eine solche Unternehmung durchzuführen. Einer von ihnen, Keith, hat trotz einer Bluter-Erkrankung diese Tour riskiert, auch um anderen Mut zu machen. Als Talisman hatten sie die Mütze eines legendären australischen Südpolarforschers aus dem Jahr 1912 dabei.
Die drei Isländer haben einige Jahre vorher schon zusammen Grönland durchquert: Vater und Sohn - der eine Parlamentsabgeordneter , der andere Rechtsanwalt aus Reykjavik - werden von einem befreundeten Psychologen begleitet. Mit ihnen verstehe ich mich sehr gut - wir tauschen einige Informationen aus, besprechen Medizinisches oder Ausrüstungsprobleme, und zum Schluß laden sie mich gar zu einem Besuch nach Island ein!
Ein amerikanisches Paar baut als gemeinsames Hobby Raketen von 1 - 2 m Höhe, die sie in der Wüste von Nevada kilometerhoch in die Atmosphäre hinaufschießen. Rob zeigt mir die Bilder davon auf seinem Laptop, mit dem er auch per Internet und Amateurfunksatelliten Berichte und Fotos an seine Freunde zu Hause schickt.
Der Lagerleiter Steve ist ebenso wie einige andere Briten Bergführer und war schon mehrfach in der Antarktis. Andere haben sogar schon in der Antarktis in Forschungscamps überwintert und können spannende Geschichten davon erzählen. Mike hat z.B. erlebt, wie bei einem "white out" mit orkanartigem Sturm ein Mannschaftsmitglied sich auf dem Weg von der Toilette zurück zu den Zelten verirrte, obwohl dazwischen Seile gespannt waren. Das Fehlen fiel erst einige Stunden später beim Zählappell auf, der zur Sicherheit alle zwölf Stunden durchgeführt wurde. Die Suche bei unvermindertem Sturm war äußerst schwierig: Zehn Personen gingen im Abstand von fünf Meter an einem 50-Meter-Seil im Kreis um das ganze Lager herum - ohne Erfolg! Das Seil wurde verlängert auf 100, dann auf 150 und 200 Meter. Aber erst bei einem Radius von 250 Meter wurde der Vermißte, zusammengekauert im Schnee, nach insgesamt 14 Stunden lebend gefunden!
Es leben und arbeiten auch einige Frauen im Camp, so z.B. die australische Ärztin Kate, die zum Glück nicht viel medizinische Probleme lösen muß. Die zierliche "Fran" aus England arbeitet als Köchin, und niemand würde ihr außerhalb der Antarktis diesen knochenharten Job zutrauen, in den Spitzenzeiten täglich bis zu 50 hungrige Mäuler satt zu bekommen. Lisa, eine sportliche Outdoor-Lehrerin aus Wales, hat im Camp den Piloten-Veteran Max aus Neuseeland gefunden - ein sehr nettes Paar.
Es gäbe noch viel mehr zu berichten, z.B. über die Abenteuer der Piloten, den wichtigen Job des Funkers oder des chilenischen Meteorologen. Ich möchte aber schließen mit den Sätzen, die ich in das große und liebevoll gestaltete Gästebuch von Patriot Hills geschrieben habe:
Having been abroad more than 20 times this is definitely the place where you meet the craziest, but also the most interesting people all over the world:
- mountaineers heading to their seventh Summit,
- climbers keen on doing first ascents or new routes,
- polar skiers trying to go to their limits at the "end of the world",
- pilots and scientists enjoying the variation of their profession,
- other people seeking the challenge of the Antarctic in different ways.....
In other places the memorable events are the culture or religion, the (native) inhabitants, the landscape or mountains.....
Besides the solitude and peace of the Antarctic the most remarkable experience in my eyes is meeting the people coming and working here! Thanks to all for this unique experience, for all the help, friendliness, good food, talks and discussions during long days waiting for the flight out!
I hope to see some of you again!
In the Antarctic and at Patriot Hills
Only ice, rock and sky around us but also an international atmosphere
cool nights and strong winds interesting people and talks
solitude and magnificant landscape personal discussions and friendship
a lot of effort and selfdiscipline some relaxation and recovery
very active in the mountains waiting a long time in the camp
two sides of an outstanding experience!
Patriot Hills, January 1998
Am sechsten Tag unseres Wartens, einem Sonntag, wird das Wetter endlich so stabil, daß die "Hercules"-Transportmaschine losfliegen kann. Wir genießen die letzten Stunden im Camp, das sich jetzt bei strahlendem Sonnenschein und Windstille von seiner besten Seite zeigt. Ich komme auf die Idee, mir als persönliches Souvenir auf einer großen Postkarte von allen Lagerbewohnern, egal ob Besucher oder Personal, eine Unterschrift geben zu lassen. Am Nachmittag machen wir uns auf den Weg zum "Flugplatz", der nur aus einigen Benzinfässern und Fähnchen besteht. Das Eis ist so glatt und tückisch, daß einige stürzen, ich teilweise in Innenschuhen herumlaufe und Peter sogar seine Steigeisen anzieht. Als das langersehnte Propellerflugzeug gelandet ist, bricht Jubel aus - jeder ist froh, daß die Warterei ein Ende hat.
Mit dem Flugzeug kommen noch einmal über 20 neue Antarktisbesucher - die letzten in dieser Saison. Das Entladen und Beladen der ganzen Ausrüstung dauert eine ganze Weile. Es herrscht eine ganz eigentümliche, gelöste Atmosphäre: alte und neue Besucher, Personal und Piloten vermischen sich, die zwei "Stewardessen" Fae und Leslie im legeren Bergsteiger-Outfit begrüßen uns per Umarmung, die letzten Fotos werden geschossen, Lisa und Max verabschieden sich noch im Flugzeug persönlich von jedem - wir sind am Ende eines großen Erlebnisses glücklich und zufrieden!
Der Rückflug über die Antarktis ist wieder faszinierend, zum Schluß fliegen wir bei Vollmond in die Nacht hinein - es ist das erstemal seit drei Wochen, daß es wieder dunkel wird. Wir landen nach Mitternacht in Punta Arenas, wo der Flughafen nur für uns geöffnet wird. Um zwei Uhr nachts erreichen wir dann müde unser Quartier - Auspacken, das langvermißte Duschen und das Aufsetzen einer Fax-Nachricht dauert allerdings noch bis vier Uhr früh. So können wir nur vier Stunden den Luxus eines Bettes genießen - bis zum nächsten Mal dauert es erneut drei Tage. In der Frühe kümmern wir uns gleich um unsere weiteren Rückflüge: wir haben Glück und können am gleichen Tag weiterfliegen, während die Belgier einige Tage lang auf Anschlußflüge warten müssen. Am Nachmittag sitzen wir bereits wieder in einem Flugzeug in Richtung Santiago de Chile. Auf halbem Weg steigt Ralf in Puerto Montt aus, da er noch einen Freund besuchen will, der hier als Entwicklungshelfer arbeitet.
In Santiago de Chile verbummle ich einige Stunden am Flughafen, bis es um Mitternacht nach Dallas weitergeht. Auch dort muß ich noch einen halben Tag herumbringen, bis ich wieder in der Nacht über den Atlantik heimfliege. Der letzte Flug von Frankfurt nach München ist dann kein Problem mehr. Nach fast dreitägiger Rückreise mit insgesamt drei Nachtflügen lande ich wieder wohlbehalten und trotz aller Strapazen gut erholt in München.
Bei unseren insgesamt zwölf Flügen um die halbe Welt haben wir fast 5 Tage in der Luft und in Flughäfen verbracht. Hinzu kommen noch einmal elf Tage Warten auf gutes Flugwetter: zwei Tage zu Beginn, drei Tage innerhalb der Antarktis und noch einmal sechs Tage vor dem Rückflug! Dem stehen eigentlich nur zwei Tage in Patagonien und acht Tage Bergsteigen im Vinson-Massif - bei allerdings besten Wetterverhältnissen - gegenüber. Trotzdem hat es sich für mich auf jeden Fall gelohnt!
Die Antarktis ist meine ausgefallenste und gleichzeitig auch teuerste Reise. Dafür hätte ich mir auch einen Neuwagen leisten können - aber ich bereue keine Mark, die ich dafür ausgegeben habe. Einen fast unberührten, faszinierenden Kontinent als einer der wenigen Besucher überhaupt zu erleben, ist ein Privileg, das ich sehr zu schätzen weiß.
Wir haben drei schöne Gipfel bestiegen, intensive landschaftliche Eindrücke genossen sowie eine gute Fotoausbeute und eine Menge elementarer neuer Erfahrungen mit nach Hause gebracht. Hinzu kommen unterwegs und besonders zum Schluß beim Warten auf das Flugzeug noch die interessanten zwischenmenschlichen Kontakte und Erlebnisse mit den anderen Antarktisbesuchern. Alles zusammen ergibt wieder ein großartiges Abenteuer und eine unvergeßliche Lebenserfahrung!