2005 - Jakobsweg zum Fünfzigsten mit dem Mountainbike
Der 50. Geburtstag ist etwas Besonderes: nach einem halben Jahrhundert ist mindestens die Hälfte des Lebens vorbei und spätestens jetzt macht man sich Gedanken über sein Leben im Rückblick, über Erreichtes oder auch unerfüllte Wünsche. Genauso spannend ist gleichzeitig aber auch der Blick in die Zukunft über das, was noch kommen soll, über Vorhaben, Ideen oder auch Ängste.
Man kann diesen Festtag ganz unterschiedlich begehen. Z. B. mit einer rauschenden Feier im großen Freundes- und Familienkreis oder auch nur in kleiner Besetzung, mit einer exotischen Reise samt Partner und Kindern oder auch ganz anders. Da ich keine Lust auf eine große Feier habe, und mir die oben erwähnten Gedanken etwas näher durch den Kopf gehen lassen möchte, entschließe ich mich zu einer mehr meditativen Reise vor dem eigentlichen Geburtstag. Dazu eignet sich besonders der bekannte Jakobsweg durch Spanien nach Santiago de Compostella.
Und zwar unter folgenden persönlichen Voraussetzungen: eine Tour ganz alleine, um mich nicht zu sehr ablenken zu lassen und um meine Sprachkenntnisse etwas aufzufrischen. Da mir eine Wanderung zu lange dauert, fahre ich mit dem Mountainbike. Aber nicht auf asphaltierten Nebenstrecken, sondern jeden Meter auf der originalen Wanderroute, eine durchaus sportliche Herausforderung. Dann Übernachtungen nur in den einfachen Pilgerherbergen – eine weitere Konzentration auf das Wesentliche.
An einem Samstag Mitte September geht es zumindest gedanklich los mit einer Aussendungsfeier in der Kirche St. Jakob in München. Am gleichen Tag kommt dann noch ein Alpenvereinstermin und Oktoberfestbesuch, sodass ich zum Vorbereiten und Packen die Nacht durcharbeiten muss.
Nach dem Flug über Madrid baue ich in Pamplona mein Rad zusammen und gerate am Abend in ein lebendiges Straßenfest mit sensationeller Atmosphäre. Statt von hier aus zu starten, radle ich erst einmal in die verkehrte Richtung - nämlich zu Grenze nach Frankreich in die Pyrenäen, um den gesamten spanischen Jakobsweg abzufahren. Schon auf dieser ersten Etappe zum Ibaneta-Pass komme ich nach einem Pilgeressen zur Erkenntnis, dass der Jakobsweg die internationalste Reise der Welt ist. Die Rückfahrt nach Pamplona auf dem Original-Camino ist eine meiner längsten und schönsten Singletrails im Leben!
Ich übernachte in Pilger-Herbergen, die zum Teil mit bis zu 90 Betten samt Duschen in alten aufgelassenen Kirchen untergebracht sind. Auf Grund der Anstrengungen schlafe ich trotzdem bestens, muss allerdings in der Regel die Herberge bis spätestens 8 Uhr verlassen haben. Die ersten Wanderer stehen schon vor 6 Uhr früh auf, um die Morgenkühle auszunutzen, wobei es im Oktober schon ganz schön kalt sein kann (6 Grad). Mein Frühstück findet meist in einer Bäckerei statt, dann geht es los. Nach einer Stunde habe ich die schnellsten Wanderer eingeholt, etwa um 11 Uhr erreiche ich deren Etappenziel. Am frühen Nachmittag passiere ich bereits die übernächste, d.h. zweite Wegstrecke der Wanderer. Danach wird es am schönsten: es ist warm geworden, es sind fast keine Pilger mehr unterwegs, ich bin im Rhythmus und die Sonne produziert das schönste Fotolicht. Etwa gegen 18-19 Uhr suche ich mir eine Herberge und finde fast immer sofort einen Platz. Pro Tag lege ich so drei Wanderetappen mit etwa 70 km und 700 Höhenmetern zurück, nicht ohne mir unterwegs einige Sehenswürdigkeiten anzuschauen und zu fotografieren, z. B. in Burgos oder Leon.
Viele kleine Erlebnisse am Rande runden den Jakobsweg ab: unterwegs treffe ich einen Franzosen, der seinen Rucksack auf zwei kleinen Rädern hinterherzieht oder viele Wanderer mit schmerzhaften Fußblasen. Ich unterhalte mich mit Pilgern aus der ganzen Welt, treffe andere Radfahrer wieder oder bekomme von einer Nonne am Wegesrand ein Mini-Medaillon geschenkt. Zwischendurch überhole ich eine Familie, die mit Kind und Esel unterwegs ist. Einmal finde ich einen verlorenen Anorak, den ich mitnehme, da ich als Radfahrer schneller bin als die Wanderer. Anschließend frage ich jeden Überholten danach, aber es dauert eine Weile, bis ich ein Radpärchen finde, die ihn verloren hatten.
Nach der Hälfte des Weges stelle ich fest, dass das Sattelrohr meines Mountainbikes einen Riss hat und ich den Sattel nicht mehr benützen kann. In der Umgebung gibt es keine Reparaturmöglichkeit und so fahre ich mit dem Zug etwa 80 km in die Provinzhauptstadt Leon, wo mir eine Werkstatt den Aluminiumrahmen schweißen kann. Am nächsten Tag fahre ich wieder mit dem Zug zum Ausgangspunkt zurück, um die Etappe “by fair means“ mit dem Rad zu fahren, da ich ja den kompletten Jakobsweg aus eigener Kraft machen will. An diesem Tag werden es 117 km und 7,5 Stunden, aber mittlerweile bin ich gut trainiert. Das hilft mir auch die folgenden schönen, aber steilen und steinigen Singletrails in Galizien zu schaffen, wobei ich kurzzeitig sogar schieben muss.
Einige Etappen vor dem Ziel wird der Jakobsweg etwas voller: für eine offizielle Urkundenverleihung muss man als Wanderer, Radfahrer oder auch mit dem Pferd nur eine bestimmte Anzahl an Kilometern bzw. Tagesetappen geschafft haben, sodass manche es sich etwas leichter machen. Trotzdem ist der Zusammenhalt unter den Pilgern groß: so werden etwa am Abend gemeinsam die unterwegs gesammelten Esskastanien gebraten.
Nach insgesamt 900 km und 9500 Höhenmetern auf dem Rad erreiche ich nach genau zwei Wochen das Ziel Santiago de Compostella. Darunter waren sogar 4 Tage mit mehr als 1000 Höhenmetern. Aber nicht das Sportliche ist bei dieser Pilgerreise entscheidend, sondern die eigenen Erkenntnisse. die man unterwegs für sein Leben gewonnen hat.
Auf dem Hauptplatz vor der Kathedrale treffe ich zufällig zwei Patienten aus meiner Praxis, die hier als Touristen unterwegs sind und mich bei dieser Gelegenheit auch gleich fotografieren können. Am nächsten Tag geht es mit dem Flugzeug wieder zurück nach München ins Alltagsleben. Aber mit dem Jakobsweg habe ich mir das beste Geburtstagsgeschenk selbst gemacht!
Nachtrag 2012:
Man kann den Jakobsweg sogar noch bis nach Finisterre an der Atlantikküste fortsetzen, aber dafür war wegen der Radreparatur nicht mehr genügend Zeit vorhanden. Diese Teiletappe habe ich acht Jahre später dann doch noch mit dem Mountainbike durchgeführt, als wir zu Ostern im Wohnmobil samt Rädern unterwegs waren. Zu diesem Zeitpunkt war der Jakobsweg wegen seiner stark gestiegenen Popularität und den Feiertagen schon sehr überlaufen und ich bin im Nachhinein froh, dass ich diesen Weg noch relativ einsam in der herbstlichen Nebensaison durchführen konnte.