Arrigetch Peaks in der Brooks Range
Auf meiner Nordamerikareise fahre ich zum Abschluss von Vancouver Island nach Seattle zurück und fliege abends mit dem Flugzeug nach Anchorage weiter. Nach Verpflegungseinkäufen und anderen Vorbereitungen will ich, wie vorher vereinbart, den Münchner Bergsteiger Schorsch und seine Familie, d.h. seine Frau Heidi und Tochter Veronika, am Flughafen abholen: Doch sie sind unterwegs - wie wir beim Flug von München nach Anchorage ja auch - hängengeblieben und kommen erst am nächsten Tag an.
Mit einem vollgepackten Leihauto fahren wir dann auf schnellstmöglichem Weg ins Landesinnere nach Fairbanks. Hier kennt Schorsch, der vorher schon zweimal in Alaska war, den deutschstämmigen Bernd, der als Jagd- und Anglerführer sowie als Buschpilot mitten in der Wildnis ein Gäste-Blockhaus als Familienbetrieb bewirtschaftet. Mit seiner kleinen Cessna - einem Wasserflugzeug - fliegen wir dann auf seine Iniakuk-Lodge am gleichnamigen See in den südlichen Ausläufern der gewaltigen Brooks Range. Die Lodge ist ein selbst errichtetes sehr schönes Blockhaus im alpenländischen Stil, sogar mit Blumen auf dem Balkon. Das geschmackvoll eingerichtete Haus in einsamer Natur, das vorzügliche Essen und die Gastfreundschaft der ganzen Familie tragen zu einer sehr angenehmen Urlaubs-Atmosphäre bei. Ein weiteres Blockhaus auf der anderen Flußseite ist nur mit einem Kanu erreichbar, und da insgesamt nicht mehr als zehn Gäste untergebracht werden können, ist dieser schöne Fleck eine ausgesprochene Idylle. Nach einem Tag Aufenthalt werden Schorsch und ich von Bernd ins Gebirge geflogen, während Heidi und Veronika auf der Lodge bleiben.
Erkundungstouren in den Arrigetch Peaks
Wir landen auf einem kleinen See und starten danach mit unserer ganzen Kletter- und Campingausrüstung sowie Verpflegung für zehn Tage zu unserer Tour in die Arrigetch Peaks. Unsere Rucksäcke wiegen mindestens 35 kg, aber das Schlimmste ist, dass wir uns zunächst ohne jeden Pfad durch völlig unwegsames Gelände, durch dichtes Unterholz, undurchdringliches Buschdickicht und trügerische Sumpfgebiete hindurchkämpfen müssen, ganz abgesehen von den lästigen Mücken oder dem unangenehmen Nieselregen.
Manchmal bleiben wir fast im Gestrüpp stecken oder können nach einem Sturz mit dem Riesenrucksack kaum noch aufstehen. So ist es kein Wunder, wenn wir nur ein bis zwei Kilometer pro Stunde vorankommen. Weiter oben finden wir zum Glück einen schmalen Pfad, aber trotz bester körperlicher Verfassung bleibt das Gehen mit unseren Lasten eine so große Strapaze, dass unsere Rastpausen am Ende immer häufiger und länger werden. Die Verhältnisse sind teilweise härter als am Mt. McKinley, und so sind wir ganz schön erschöpft, als wir nach zehn Stunden am Basislager ankommen.
Deshalb macht es uns auch nicht allzu viel aus, dass wir wegen Dauerregens fast den ganzen nächsten Tag im Zelt verbringen. Bei wechselhaftem Wetter machen wir danach erst einmal eine Erkundungstour und wandern in einen wilden Talschluss mit mehreren malerischen Seen. Trotz leichtem Gepäck ist auch hier das Vorwärtskommen alles andere als einfach - wir mühen uns stundenlang über riesige Blockfelder. Doch interessante Ausblicke auf steile Gipfel und eindrucksvolle Nebelstimmungen entschädigen uns für diese anstrengende Rundtour.
Klettertouren - mit und ohne Gipfelerfolg
Unsere erste Klettertour führt gleich auf einen der höchsten Gipfel des Gebietes. Nach einem langen Anmarsch entscheiden wir uns für die leichteste Route, die zuerst durch ein steiles blockerfülltes Kar führt. Am Gipfelgrat angekommen benützen wir das Seil, da er teilweise ausgesetzt, aber auch ziemlich brüchig ist. Vom höchsten Punkt auf etwa 2200 m Höhe - 1400 m über unserem Zelt - haben wir eine fantastische Aussicht auf die wilden Zacken und extremen Steilwände der Arrigetch Peaks.
Wir kommen uns wie Pioniere vor, auch wenn wir nicht die ersten auf dem Gipfel sind. Aber außer einem Steinmann haben wir keinerlei Spuren von Vorgängern gefunden. Das ganze Gebiet besteht aus kompaktem steilen Granitfels - eine geologische Besonderheit in der Brooks Range. Da es auch einige Gletscher gibt, haben die Arrigetch Peaks große Ähnlichkeit mit dem Bergell, nur sind wir hier die beiden einzigen Kletterer und völlig alleine auf uns gestellt. Die Karte, die es für dieses Gebiet gibt, hat lediglich den Straßenkartenmaßstab 1:250 000; auch wissen wir zwar, welche Gipfel über welche Grate bestiegen wurden, aber es gibt keine Beschreibungen oder Schwierigkeitsangaben. Wie wir später hören, kommen pro Jahr nur zwei bis drei Klettergruppen hierher. Das ganze Gebirge ist so gewaltig, einsam, abweisend, ja geradezu menschenfeindlich, dass wir direkt froh sind, im Tal noch ein paar Wanderer zu wissen. Obwohl wir beide zusammen mehr als 40 Jahre Bergerfahrung haben, müssen wir bald einsehen, dass wir unter diesen Umständen hier zu zweit nicht allzu viel ausrichten können.
Nach dieser ersten Gewalttour machen wir eine kürzere, seilfreie Klettertour auf einen niedrigeren Gipfel - einen an sich notwendigen Ruhetag können wir uns bei unserer begrenzten Zeit nämlich nicht leisten. Dann wollen wir den interessantesten Berg im Zentrum der Gruppe besteigen, den WichmanTower, ein Gipfel, der drei Täler überragt. Obwohl am Morgen das Wetter noch strahlend schön ist, wird es beim Anmarsch innerhalb kürzester Zeit ungemütlich und kalt. Nach einem mehrstündigen Anstieg, inklusive einer Gletscherbegehung und einer steileren Eiswand, sitzen wir bei starkem Sturm und Temperaturen um den Gefrierpunkt auf einer Scharte und ziehen uns bei dieser Rast alle verfügbaren Kleider an. Ein Gipfelversuch von hier aus scheitert, da wir im Nebel eine falsche Route erwischen und uns bei diesen schlechten Bedingungen für den Rückzug entscheiden - nur etwa 150 m unterhalb des Gipfels! Bei solchen Verhältnissen ist es die einzig vernünftige Entscheidung, aber wir sind trotzdem sauer, dass wir so chancenlos abgeblitzt sind. Beim Abstieg über das felsübersäte Gletscherende und die große Stirnmoräne sind wir beeindruckt von den Dimensionen der riesigen Blöcke, die hier kilometerlang eine einzige Steinwüste bilden. Ganz klein und unbedeutend kommen wir uns in diesem Labyrinth - wie überhaupt in dem ganzen Gebirge - vor.
Als nächstes machen wir uns mit unserem immer noch schweren Gepäck auf den anstrengenden Weg über einen Sattel ins Nachbartal, wo wir bei einem schönen Lagerplatz unser Zelt aufschlagen. Wir sind inzwischen trotz ausreichender Verpflegung so ausgelaugt, dass wir zum Abschluss nur noch eine Wanderung in das ebenfalls sehr lange Tal machen. Der anfängliche Buschgürtel nervt uns gewaltig, und wir sind beide durch die Überanstrengungen der letzten Tage schon leicht lädiert: während ich meine Knie spüre, hat Schorsch Probleme mit seinen Achillessehnen. Trotzdem laufen wir so lange weiter, bis wir einen Überblick über die äußerst steilen und beeindruckenden Felsgipfel im Talschluss bekommen. Fleischbank-Ostwände stehen hier zu Dutzenden herum, und es gibt noch Kletterziele, d.h. Erstbegehungsmöglichkeiten, für Jahrzehnte! Um jedoch überhaupt vernünftige Gipfelchancen zu haben, wäre eine komplette, sorgfältig geplante Expedition mit wenigstens vier Kletterern und drei Wochen Zeit sowie Nachschub aus der Luft notwendig. Wir aber sind froh, unsere eindrucksvolle Erkundungstour geschafft zu haben, und genießen beim Rückweg die Annehmlichkeiten eines entspannenden Bades bei einer heißen Schwefelquelle. Dann laufen wir das ganze Tal hinaus zu unserem vereinbarten Treffpunkt mit Bernd. Nachdem wir zum Abschluss noch den tiefen und schnellströmenden Hauptfluss durchquert haben, warten wir bei Bernds Jagdhütte auf ihn und sein Flugzeug, das auch tatsächlich pünktlich eintrifft.
Zwei Tage später erleben Schorsch und ich - diesmal bei gutem Wetter - noch einen hochinteressanten Aussichtsflug über die Arrigetch Peaks. Wir fliegen mehrfach kreuz und quer über die gesamte Gruppe und bei geöffneten Kabinenfenstern fotografieren und filmen wir ausgiebig die Berge und Täler aus der Luft. So können wir wenigstens noch mühelos unsere Gipfel aus der Luft genießen.